Heute zeigen wir euch, wie Peter* auf sehr drastische Weise zum Minimalismus fand. Nachdem sein per Mail mitgeteiltes Lob an unseren Blog einer sehr langen Bearbeitungszeit unsererseits unterlag (Asche auf unser Haupt!), kamen wir ins Gespräch und durften ihm einige Fragen stellen, welche er uns an einigen heißen Sommertagen im Juli 2015 beantwortete.
Wir haben uns dazu entschlossen, das Interview unverändert zu lassen, da wir von Peters „Schreibe“ und seiner Offenheit so begeistert sind und euch die positive Stimmung, die einen beim Lesen ergreift, nicht vorenthalten wollen :)
Hallo Peter. Wer bist du und wie lebst du?
Ich bin 36 Jahre, komme aus Solingen, wo ich jetzt auch wieder wohne, ziehe aber demnächst nach Wuppertal. Familienstand geschieden, aber auf dem Weg in Richtung wiederverheiratet. ;)
Meine Wohnsituation: Derzeit etwas beengt. Ich lebe mit meiner besseren Hälfte auf knapp 60 m². Funktionieren tut es, weil bei mir durch das Thema Minimalismus zwei Drittel meines weltlichen Besitzes ins Nirvana gewandert sind (überwiegend an die Caritas gespendet, teilweise verkauft) und weil auch meine zukünftige Frau inzwischen stark minimalistische Tendenzen hat. Auch wenn sie sich selbst nie als Minimalistin bezeichnen würde. Ich kann aber nur betonen – das mit dem „mit gutem Beispiel vorangehen“ funktioniert vollauf, viel besser als alles Rumdiskutieren. Inzwischen ist es so, dass meine Freundin auch immer Dinge aussortiert, wenn bei mir die Kartons oder Müllsäcke zum Einsatz kommen. Dann heißt es immer „warte eben, ich hab’ da auch noch die und die Bücher bzw. Klamotten, die weg sollen“.
Wie fandest du zum Minimalismus?
Dazu muss ich ein wenig ausholen: Meine erste Frau war total kaufsüchtig. Wir waren insgesamt elf Jahre zusammen, davon sieben verheiratet. Nach jahrelangem Gegen-die-Wand-Reden standen wir am Ende kurz vor der Privatinsolvenz, es gab eine regelrechte Ameisenstraße von Amazon und Ebay zu uns und ständig musste ich ihr Konto ausgleichen. Bis hin zum voll ausgeschöpften Dispo bei ZERO Rücklagen. Es war gelinde gesagt brutal. Ich wusste nicht mehr, wovon ich Essen kaufen sollte. Unter der extrem materialistischen Ausrichtung ihrer Person und den ständigen Vorhaltungen, was wir uns alles nicht leisten können, litt die gesamte Beziehung so sehr, dass irgendwann alle positiven Emotionen in einem Schwarzen Loch verschwunden waren, und ich auch angesichts unserer finanziellen Situation die Notbremse ziehen musste. Da wurde mir dann vorgeworfen, ich würde sie betrügen und nur an mich denken – und auf einmal stand ich nach einem Tobsuchtsanfall und der Androhung, dass sie und ihre Anwälte mich fertig machen würden, vor der Wohnungstür. Klappe zu. Reset.
Das war Ende 2010. Zum Dank hat sie auch noch alles behalten, außer meinen Klamotten und den Dingen in meinem Arbeitszimmer, die konnte ich in einer Nacht- und Nebelaktion retten, und Teile meiner CD-Sammlung. Vom Rest unseres/meines Hausstandes habe ich nie etwas wieder gesehen.
Ich saß dann nach der Trennung bei meinen Eltern im Gästezimmer mit einer Handvoll Dinge und dachte nur „okay – it’s only rock’n’roll, but we like it“. Es war die krasseste Erfahrung meines Lebens, zumal ich ja wusste, jetzt kommt die Scheidung, und gleichzeitig gab es noch einen Rechtsstreit um ein Internet-Start up, an dem ich damals als einer von drei Eignern und derzeit Freiberufler beteiligt war. Da wusste ich also: vor mir liegt jetzt echt mal die „Rocky Road to Dublin“, oder, wie man so schön sagt: „Up Shite Creek without a paddle“.
Ich habe dann tatsächlich bei der Arbeit im Büro am Rechner gesessen und in der Mittagspause gegoogelt – und zwar den Suchbegriff „how to survive with little or no money“. Dann bin ich auf zenhabits und The Minimalists gestoßen. Und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich musste das ja alles gar nicht tun! Ich musste nicht mit den Müller / Meier /Schmidts mithalten. Ich konnte selbst entscheiden, was ich mit meiner Kohle / meinem Lebensstandard veranstalte. Und auch wenn das Leben wie immer viele Widrigkeiten bereithielt – es ging seitdem stetig nur bergauf!
Siehst du dich überhaupt als Minimalist?
Ich sehe mich absolut als Minimalist, da ich früher auf jeden Fall sehr konsum-orientiert war, eine umfangreiche Garderobe für jede erdenkliche Gelegenheit hatte (bin jetzt auf dem Weg zur Capsule Wardrobe), große Fernreisen für mich Pflicht waren, und ich alles mögliche sammelte. Platten, Action Figuren, Comics, Band T-Shirts… Ohne Ende. Heute ist alles anders, ich habe immer Kohle in der Tasche und bin total froh, dass die Dinge, die in meinem Leben existieren, mir auch tatsächlich Freude bringen und Sinn haben. Und nicht den Blick aufs Zwischenmenschliche verstellen.
Andere Leute würden mich vermutlich nicht als Minimalisten sehen. Inzwischen gibt es da ja recht ideologische Debatten. Ich fahre gern Auto (einen wunderschönen VW-Youngtimer), meine Freundin hat auch ein eigenes Auto, ich mag meinen Job als Pressesprecher in einem Industriekonzern (hab’ lang und hart darauf hingearbeitet) und würde den auch nicht an den Nagel hängen (Stichwort Early Retirement und so weiter) – auch bin ich kein Vegetarier oder Fitness-Meister, ich bin einfach jemand, der inzwischen recht genau weiß, was für ihn sinnvoll ist und was nicht. Konsum ist nicht das Problem, nur übermäßiger Konsum der den Menschen emotional und finanziell erstickt. Man kann eben nur so viel ausgeben, wie nach Abzug der laufenden Kosten reinkommt. Eine einfache Weisheit, die unsere Gesellschaft scheinbar kollektiv vergessen hat.
Wie definierst du Minimalismus für dich?
Darüber habe ich dieser Tage noch am Telefon mit meinem besten Freund debattiert. Wir sind beide der Meinung, dass es um das „relevant set“ geht. Also die relevante Anzahl von Dingen zu haben… Was nützen mir 300 Rock-CDs wenn ich nur 30 davon regelmäßig mit Genuss höre? Wofür brauche ich Band T-Shirts von Bands, die ich zu meiner Abitur-Zeit cool fand, die ich jetzt mit Mitte 30 aber grausig finde? Wieso kann ich mich nicht davon trennen? Warum zum Teufel hatte ich am Ende FÜNFZEHN (!) Lederjacken??? (Ich bin jetzt bei der Idee von „Embrace the idea of one“ und habe noch eine Lederjacke…)
Es geht nicht um den Wettbewerb „wer hat weniger“. Es geht darum, das Gefühl für „genug“ zu entwickeln. Dann tarieren sich die Dinge im Leben ganz automatisch aus. Und andersrum gilt der Spruch vom alten Epikur: „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.“
Bereust du eine deiner Entscheidungen?
Keine einzige. Was weg war, war weg, kein Blick in den Rückspiegel. Bis heute hat jedes Teil, das ich gespendet / verkauft / entsorgt habe, mein Leben besser gemacht.
Was war besonders lehrreich für dich auf deinem Weg?
Besonders lehrreich war für mich, zu bemerken, wie sehr unsere eigene Einstellung, unsere Wahrnehmung der Welt diktiert. Ich war vorher mit einer (vermutlich) depressiven und kaufsüchtigen Frau liiert, und das hat meine Wahrnehmung der Welt total definiert. Danach war es, als ob die Sonne durch die Wolken bricht – und ich merkte, wow, es geht mit so viel weniger! Zudem verstehe ich inzwischen Menschen wie meinen Vater, der eigentlich von Natur aus Minimalist ist. Er ist Jahrgang 1934, gehört also zur Kriegsgeneration und hat als Kind im und nach dem Krieg echtes Elend und wirkliche Existenznöte und echten Hunger erlebt. Er hat schon in den 80ern immer zu meiner Schwester und mir gesagt, wir wären „zum Konsum verdammt, zum Kaufen verurteilt“. Das war sein trockener Humor, aber inzwischen verstehe ich ihn. Er ist ein total zufriedener, auf eine still Art und Weise fröhlicher Alter Mann von fast 81 Jahren, der sich wirklich immer hinstellt und fragt: Brauche ich das, oder will ich das nur haben? Von ihm hätte ich Minimalismus viel früher lernen können. Zum Glück habe ich die Kurve noch gekriegt. Er hat mir in den letzten Jahren mal gesagt: „Ich weiß nicht, was das mit eurem Minimalismus da soll, aber wenigstens hast Du endlich kapiert, dass dieser ganze Tanz ums Goldene Kalb nichts bringt.“
Total imponiert hat mir auch die Haltung meiner jetzigen Partnerin, die, als wir uns frisch ineinander verliebt hatten, auf mein Geständnis dass ich total mittellos und noch nicht geschieden sei, nur meinte „Wir haben alle mal einen schlechten Tag. Mein Stiefvater hat Krebs und verheiratet ist er mit meiner Mutter auch nicht – was soll’s also?“
Was fiel dir besonders schwer?
Dass meine Plattensammlung durch die Scheidung und den (anfangs) Zwangsminimalismus zerrissen wurde. Das ist das einzige, was mich bis heute anficht. So eine Plattensammlung ist ein Gesamtkunstwerk, das über lange Jahre wächst. Trotzdem habe ich den verbliebenen Teil weiter minimalisiert. Der Staudamm war einfach gebrochen, wichtige Alben etwa von Ministry oder KMFDM waren weg. Da konnte ich den Rest auch zum Teufel schicken und mich auf das konzentrieren, was mir wirklich am Herzen liegt.
Zusammenfassend: Wie hat sich dein Leben verändert?
Absolut zum Positiven. Ich habe abgenommen, es geht mir gesundheitlich viel besser, auch weil ich mich von toxischen Personen im Zwischenmenschlichen mehr und mehr distanziert habe (als Neurodermitiker sieht man den Erfolg von weniger Stress direkt auf der Haut…!), ich habe eine Stelle in meinem Traumjob gefunden, die perfekte Partnerin kennengelernt, arbeite täglich daran, ein besserer Schachspieler zu werden, spiele seit zwei Jahren Gitarre (hatte ich vorher nie Zeit und Geld für)… Außerdem habe ich wieder angefangen zu malen, Haikus zu schreiben… Ich habe dank meiner Partnerin eine tolle zweite Familie in Bayern, ich habe Freundschaften in einer Tiefe geschlossen, oder weiterentwickelt, die meinem früheren materialistischen Selbst nicht möglich gewesen wäre. Es ist wirklich, als ob mit dem Moment, als ich innerlich zum Minimalismus übertrat, ein fieser Grauschleier von meinem Leben gehoben worden wäre.
Was möchtest du anderen Menschen raten bzw. mit auf ihren Weg geben?
Lasst euch nicht von anderen erzählen, was gut für euch ist. Das könnt nur ihr selbst ergründen. Und habt keine Angst vor schweren Schritten. Ich habe im Zuge meines Wegs in den Minimalismus meine selbständige Tätigkeit aufgegeben, habe auf einmal in München gearbeitet (war zu meiner Freundin runtergezogen, 2013 ging es dann wieder in die andere Richtung nach NRW), habe außer einer Scheidung noch den Tod eines geliebten Menschen zu verkraften gehabt und bin in einen beginnenden Burn-out getrudelt… Ihr merkt schon, die Story ist reichlich komplex mit vielen Höhen und Tiefen seit 2011. Aber Minimalismus war IMMER die richtige Antwort auf alle schwierigen Fragen. Auf einmal war weniger immer mehr. Und immer tauchten plötzlich Leute auf, die mir helfen wollten und konnten. Das ist auch ein Grund, warum ich heute viel mehr darauf fixiert bin, anderen mit meinen Fähigkeiten zu helfen, als früher. Das ist irgendwie karmisch. Man lernt einfach, dem Universum zu vertrauen, wenn man loslässt. Wenn man stets bereit ist, zu geben, kommt immer etwas zurück.
Bist du gern dort, wo du jetzt bist?
Absolut. Ich bin wieder in meiner Heimat. Aber ich freue mich auch, dass die Reise weiter geht. Meine Freundin und ich ziehen jetzt in eine größere Wohnung, von der aus wir beide nur noch einen Katzensprung von Anfahrt zur Arbeit haben statt der jetzigen Pendelei von Solingen nach Wuppertal. Nächstes Jahr heiraten wir. Das Leben ist ein ständiger Fluss, den man am wenigsten behindert, wenn man ein schlankes Profil bietet (also wenig mentalen und physischen Ballast mit sich rumschleppt). Nichts ist beständiger als die Veränderung.
Wie reagiert dein Umfeld auf deine Entscheidung zum Minimalismus?
Die meisten Menschen reagieren positiv, wenn man ihnen erläutert, wo die Vorteile liegen. Einige finden es auch merkwürdig. Die meisten sagen, sie könnten das nicht. Aber das Lustige ist, dass meine engsten Freunde und meine Familie inzwischen alle minimalistische Tendenzen zeigen. So in Richtung „Du hast mich draufgebracht, dass ich eigentlich auch mal den Keller / den Dachboden / die Gartenlaube ausmisten müsste“. Meist bleibt es nicht dabei, und ich habe da schon viele positive Rückmeldungen bekommen.
Gibt es manchmal Rückschläge beim Minimalisieren?
Höchstens, wenn man auf einmal einen Gegenstand ersetzen muss, der einem lieb geworden ist, aber man aus irgendeinem Grunde nicht mehr rational vertreten kann, ihn zu besitzen. Die berühmten Sentimental Items… Ein Beispiel: Meine erste E-Gitarre war eine Kopie einer schwarzen Fender Stratocaster. Schönes Teil, halt ein billiges Einsteiger-Ding vom Discounter. Nach einem Jahr war es so, dass ich auf diesem Stück Sperrholz, das mir total ans Herz gewachsen war, allerdings nicht mehr gescheit spielen konnte. Meine Finger waren zu schnell für den schlecht verarbeiteten Hals, die Mechaniken ermöglichten kein exaktes Stimmen, der Tonabnehmer-Wahlschalter war eine Katastrophe (wenn man über den Hals-Pickup spielte, kamen aus dem Amp Töne, als ob man das Teil unter Wasser spielte… xD).
Ich habe also auf eine neue Gitarre gespart, und als ich nach meinem Geburtstag die Kohle zusammen hatte, zog eine wunderschöne G&L ASAT Deluxe bei uns ein (siehe Foto). Ich bezweifle fast, dass ich mir jemals wieder eine andere E-Gitarre kaufen werde. Ein wunderbares Instrument, das mir jeden Tag Freude bringt. Meine erste Gitarre allerdings, die ich nach einem Pixies-Song Velouria getauft hatte, habe ich in einem kleinen Ritual noch mal aufgemöbelt. Neue Saiten aufgezogen, den Hals noch mal mit Lemon Oil behandelt, noch ein letztes Mal „Everlong“ drauf gespielt, ihr einen kleinen Foo Fighters-Sticker unterhalb der Brücke verpasst… Dann habe ich Velouria einen Kuss auf den Korpus gegeben, „Goodbye old girl“ geflüstert, und sie mitsamt Gitarrenständer bei der Caritas freigelassen, mit der Auflage, sie möglichst einem bedürftigen Punkrock-Kid zu vermachen, das eine gute Einsteiger-E-Klampfe braucht. Das war die Geschichte… Das einzige Mal, dass es mir richtig schwer fiel, etwas loszulassen, in den Jahren seit 2011.
Was hältst du von Ausdrücken wie „echte Minimalisten tun…“?
Bullshit. Das ist so wie „echte Sozialdemokraten tun…“, echte Veganer tun, echte Rock-Fans tun, echte aufrechte Deutsche tun… So ein Quark. Jeder Mensch ist unterschiedlich und muss seinen individuellen Weg finden. Wenn einer als digitaler Nomade von Programmier-Job zu Programmier-Job um die Welt reist, und damit glücklich ist, wunderbar. Wenn einer eine Villa am Stadtrand hat und dabei nicht über seine Verhältnisse lebt, wofür sollte ich den verurteilen? Ob jemand Porsche oder Bus fährt, sagt nichts über seinen Charakter aus.
Das einzige, was ich sagen würde im Sinne von „echte Minimalisten tun…“ ist glaube ich „jedem Menschen eine Chance geben“. Das wünscht man sich selber doch auch, oder?
Warum würdest du einem Fremden eine Auseinandersetzung mit dem Minimalismus empfehlen?
Er hilft, die wesentlichen Dinge im Leben zu sehen. Er hilft, finanzielle Sorgen zu lindern oder wie in meinem Fall, sie binnen eines Jahres komplett zu beseitigen. Man wird offener für unglaublich viele Dinge. Alles was man tut und alles was man macht, sind auf einmal nur noch die „favourite things“. Da kommt wieder der Gedanke vom „Relevant Set“. Egal, ob Musik, Literatur, Beziehung, Freunde, Job, Familie – man bewegt sich nur noch innerhalb seiner Favoriten. Das Leben ist zu kurz für oberflächliche Freundschaften, erkaltete Beziehungen und schlechte Musik. Minimalismus kann immer helfen, ganz zu sich selber zu kommen. Erst rückt sich der äußere Rahmen zurecht. Die innere Entschlackung folgt meist zwangsläufig.
Vielen Dank, Peter, für diesen offenen, interessanten und sympathischen Einblick in dein Leben! :)
*Name von der Redaktion geändert.